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Sichtbar – unsichtbar

Wird die Komplexität zu gross, folgen die Menschen denjenigen, die ihnen eine Vereinfachung anbieten, so Peter Kruses zusammengefasste Aussage in seinem bereits erwähnten Buch.


Eine Vereinfachung ist die Unterscheidung zwischen «Wir» und «die Anderen». Es wird so getan, als ob «die Anderen» für unsere Probleme schuld wären. Politische Parteien richten ihr Parteiprogramm nach dieser Vereinfachung. Die «Anderen» sind in diesem Fall Menschen von Anderswo. Eine andere Vereinfachung, die genauso abgrenzt, ist die Erzählung, mit Umverteilung von Reich zum Rest der Bevölkerung seien die Probleme gelöst.


Diese sichtbaren Vereinfachungen mögen Menschen beruhigen, sie lösen die Probleme nicht, denn die Welle 2025 hat einen unsichtbaren Ursprung. Wenn der Optimismus versiegt, wenn die Perspektive auf ein besseres Leben (Jürg Grossens Wohlstandperspektive) negativ wird, tendieren die Menschen, sich wie Voltaires Candide zu verhalten: „Cela bien dit, […] mais il faut cultiver notre jardin“ („Gut gesagt, aber wir müssen unseren Garten bestellen“).


Papst Franziskus beschrieb 2015 die Auslage in seiner Enzyklika Laudato si’. Franziskus kritisiert darin „die Schwäche der internationalen politischen Reaktion“, während die Wirtschaftsmächte fortfahren, „das aktuelle weltweite System zu rechtfertigen, in dem eine Spekulation und ein Streben nach finanziellem Ertrag vorherrschen, die dazu neigen, den gesamten Kontext wie auch die Wirkungen auf die Menschenwürde und die Umwelt zu ignorieren.“ Franziskus folgert: „So wird deutlich, dass die Verschlechterung der Umweltbedingungen und die Verschlechterung im menschlichen und ethischen Bereich eng miteinander verbunden sind.“


Die Trump, Putin, Milei usw. dieser Welt wecken nationalistische Reflexe. George Orwells 1984 kommen sie manchmal gefährlich nahe. Die Schweizerische Volkspartei prägt die Schweizer Politik seit Jahrzehnten mit ausgrenzenden Vereinfachungen. Kurzfristig bringen diese Reflexe den Wählern dieser Parteien und Menschen wahrscheinlich die erhoffte Linderung. 


Die Globalisierung anzuprangern, ist einfach, wenn viele das Gefühl haben, sie seien Verlierer der Globalisierung. Die Ursachen für dieses Gefühl zu bekämpfen, ist hingegen viel schwieriger und erfordert eine langfristige Vision.


Die Schlussfolgerung aus der Kritik des kürzlich verstorbenen Papstes ist, dass für die Individuen das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Kapitalformen gemäss Pierre Bourdieu massiv gestört ist.


Der frühere Bundesrat Pascal Couchepin soll einmal gesagt haben «l’udc est un parti qui pose les bonnes questions mais donne les mauvaises réponses » (Die SVP ist eine Partei, welche die richtigen Fragen stellt, aber die falschen Antworten liefert). Ob er das wirklich tat, ist nicht belegbar, aber die Aussage gefällt mir. Wenn die sichtbaren Lösungen die falsche Reaktion auf die Welle 2025 sind: was ist die richtige Reaktion?

 

Buchempfehlungen

Voltaire (1759) Candide ou l’optimisme (erschienen unter dem Pseudonym Docteur Ralph). Deutsche Übersetzung (2006) ISBN 978-3866470743

 

Voltaire übt zum einen harsche Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit, zum anderen zweifelt er offen an der Existenz eines Gottes, der alles zum Guten lenkt und 'die beste aller möglichen Welten' geschaffen habe.

 

George Orwell (1949) 1984, Deutsche Übersetzung (2021) ISBN 978-3730609767

 

George Orwells Vision eines totalitären Staats, in dem Cyberüberwachung, Geschichtsrevisionismus und Gedankenpolizei den Alltag gläserner Bürger bestimmen, hat wie keine andere Dystopie bis heute nur an Brisanz gewonnen.

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