Eine funktionierende Gesellschaft hat einen Gesellschaftsvertrag, eine implizite Vereinbarung, an die sich die überwiegende Mehrheit hält und denjenigen ein Nachteil erwachsen kann, die sich nicht daranhalten. In der Schweiz ist es einerseits das Wohlstandsversprechen, welches der Wirtschaftselite viel Freiheiten gab und diese mit Engagement fürs Gemeinwohl dankte. Im Gegensatz zu anderen Ländern erhielt das Volk anderseits ab 1848 weitreichende Kompetenzen und dankte mit einem sorgfältigen Umgang mit diesen Kompetenzen. Dieser aussergewöhnliche Pakt nennt man den liberalen Sonderweg.
2024 sprach Michael Hermann im Zusammenhang mit der Abstimmung zur 13. AHV-Rente vom Ende des liberalen Sonderwegs der Schweiz. Die Ablehnung der BVG-Reform wenige Monate später bestätigte diese
Entwicklung. Herrmann zufolge wurde durch den Einzug des angelsächsischen Wirtschaftsliberalismus in einst sehr schweizerische Unternehmen wie die Swissair und die Grossbanken, die keinerlei
Zurückhaltung mehr kannten, etwa bei den Boni, viel vom gegenseitigen Vertrauen zerstört. Jürg Grossen seinerseits spricht, von einer verlorenen Wohlstandsperspektive.
Die Schweiz ist mit derselben Herausforderung konfrontiert wie das Königreich beider Sizilien vor der Einigung Italiens. Auch in diesem Königreich gab es einen impliziten Gesellschaftsvertrag, der den Eliten viele Freiheiten gab, welche mit Engagement für das Gemeinwohl dankten.
Beim Zusammenbruch des Königreichs beider Sizilien wurde der Gesellschaftsvertrag durch nichts Gleichwertiges ersetzt. Die Bourbonen versuchten ihre Krone zurückzubekommen, die Grossgrundbesitzer
ihr rentenkapitalistisches Wirtschaftssystem zu erhalten, die Briganten mit Gewalt ihre Freiheit zu gewinnen. Das neue Königreich Italien hatte nur Waffengewalt als Antwort zu diesen Forderungen
zu bieten.
Die süditalienische Wirtschaft kam zum Erliegen. Ab den 1880er Jahren nahm die Landflucht zu und setzte die Auswanderung ein. Mafiöse Organisationen nutzten das Machtvakuum aus und ersetzten
teilweise den Staat, wo dieser versagte. Die einzige Organisation, die sich neben dem organisierten Verbrechen behaupten konnte, war die katholische Kirche.
Wer weder sein Glück anderswo suchte noch sich einer mafiösen Organisation oder der Kirche anschloss, musste untendurch. Grosse Teile der Bevölkerung verarmten und mussten primär um das
alltägliche Überleben kämpfen. Bis heute gibt es in Süditalien keinen Gesellschaftsvertrag, an der sich die überwiegende Mehrheit hält und denjenigen ein Nachteil erwachsen kann, die sich nicht
daranhalten.
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Deutsche Übersetzung (2008) Tausend Jahre, die ich hier bin ISBN 9783492051118
Der Roman beginnt mit der Vereinigung Italiens und endet mit dem Fall der Berliner Mauer und erzählt wie während dieser Zeit in Grottole (Provinz Matera) zwar vieles geschieht und sich doch nichts verändert.
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