· 

Heimat und Ursprung

Philippe: Auf meiner Identitätskarte steht: Heimatort Payerne VD. Ehrlich gesagt, entstehen keine Heimatgefühle, wenn ich durch die Gassen dieses Ortes schlendere. Ich weiss gar nicht wo meine Vorfahren gewohnt haben oder wann der Letzte weggezogen ist. Gut, ich habe auch nie den Friedhof besucht und nach Gräbern mit meinem Nachnamen Ausschau gehalten. Das französische Wort auf der Identitätskarte gefällt mir besser: Lieu d’origine. Die deutsche Journalistin Christiane Hoffmann hat das in ihrem Buch «Alles, was wir nicht erinnern» mit einem Satz treffend formuliert: Rosenthal ist keine Heimat, eher ein Ursprung. Rosenthal ist ein Dorf in Schlesien (heutiges Polen), welches ihr Vater und seine Familie gegen Ende des zweiten Weltkriegs fluchtartig vor der vorrückenden sowjetischen Armee verlassen musste. Erst nach dem Mauerfall konnten sie zurück. Fremde Menschen wohnten in ihrem Haus, nette Menschen, aber es war nun eindeutig ihr Haus. Zu den Gräbern hatte auch niemand geschaut.


Gianpietro: Heimat ist mehr als Gebäude oder Friedhöfe. Wobei Friedhöfe durchaus für ein Heimatgefühl wichtig sein können. Einer meiner ersten Gedanken nach dem Felssturz von Blatten war, dass der Friedhof weg ist. Für immer verloren. Das Grab der Angehörigen nicht besuchen zu können, ist eine schmerzhafte Erfahrung. 


Heimat hat viele Dimensionen. Heimat kann ein Ort sei. Ein Ort, an dem man geboren und aufgewachsen ist, wo man sich auskennt und die Umgebung vertraut ist – ein Dorf, eine Stadt oder eine Region. Heimatgefühle können auch mit einer Landschaft oder bestimmten Gerüchen, Geräuschen und Bildern entstehen. Heimat ist ein Gefühl von Geborgenheit, Vertrautheit und Zugehörigkeit. Dieses Gefühl entsteht durch Familie, Freunde, Sprache, Traditionen und Rituale, die einem das Gefühl geben, “zu Hause” zu sein. Deshalb sind Friedhöfe wichtig. Dort sind die Menschen, die man kannte, mit denen man eine Beziehung hatte. Mit dem Erdrutsch wurden die Bewohner von Blatten der Möglichkeit beraubt, ihre verstorbenen Angehörigen zu besuchen, und sie haben keine Gelegenheit bekommen, Abschied zu nehmen.


Migranten können Heimat im Plural erleben. Heimat können mehrere Orte sein, weil dieses Gefühl von Geborgenheit, Vertrautheit und Zugehörigkeit nicht an einem einzigen Ort gebunden ist. Es gibt die «alte» Heimat und die «neue» Heimat. Der Ort der Vergangenheit und der Ort der Gegenwart. Wenn Du Verwandte an beiden Orten hast, denen Du Dich verbunden fühlst, dann bleibt es bis zu Deinem Lebensende so. Auch für Migrantenkinder.

P.S. Der Heimatort ist in der Schweiz die Gemeinde, in der ein Bürger der Schweiz sein Heimatrecht hat. Durch Geburt erhält ein Kind den Heimatort des Elternteils, dessen Namen es trägt. Deshalb ist der Heimatort der Ort, in dem die Vorfahren gelebt und Rechte und Pflichten erworben hatten und dadurch heimatberechtigt waren. Die Familie Groux hat ihren Heimatort in Payerne, eine Ortschaft im Kanton Waadt.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0