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Philippe: eine Zahl schwirrt mir seit meiner Studienzeit im Kopf herum. Vielleicht hat mein Gedächtnis alles verfälscht, aber das Resultat einer Studie war, dass in der Schweiz der Sohn zweier Schweizer Akademiker eine 111-fach höhere Wahrscheinlichkeit hat, an der Universität zu studieren, als die Tochter zweier nichtakademischer Einwanderer.


Mädchen werden gegenüber Knaben benachteiligt. Akademikerkinder gegenüber Kindern von Nichtakademikern bevorteilt. Migrationshintergrund ist eine Hürde. Deine Herkunft prägt Deinen Zugang zu Bildung. Und Du kannst nichts machen.


Beim Nachnamen haben die Migranten keinen Spielraum, aber sie sind frei, ihren Kindern den Vornamen zu geben, den sie wollen. Zumindest theoretisch. «Ich weiss nicht, wie es sich anfühlt, seinem Kind einen Namen zu geben, der nicht kurdisch tönt, um es zu schützen» schreibt Tahsim Durgun in seinem Buch «Mama, bitte lern Deutsch».


Gianpietro: Achim Crocco, die Hauptfigur meines Debütromans, heisst Achim, weil sein Vater wollte, dass er einen deutschen Vornamen trägt. Nicht etwa, weil seine Mutter Deutsche ist. «Weil du damit automatisch als Deutscher angesehen wurdest. Wo auf der Welt außerhalb Deutschlands gibt es Achims?», erklärt sie ihm wortwörtlich, als er seine Mutter fragt, wieso es seinem Vater wichtig war, dass er einen deutschen Vornamen trägt. Auch Paolo Gentile entschied sich für diesen Weg und taufte seinen Sohn Markus.


Wäre Achim in der Zentralschweiz aufgewachsen, hätte ich ihm wahrscheinlich den Vornamen Alois gegeben. Achim ist aber Deutscher, denn seine Mutter ist Deutsche. Dennoch schützen seine Eltern ihn, indem sie ihm keinen italienischen Vornamen geben. Wie wäre er behandelt worden, wenn er Gioachino Crocco geheissen hätte? Wären ihm Steine in den Weg gelegt worden? Hätte er studieren können? Hätte er trotzdem Privatdozent an einer renommierten Universität werden können? Vielleicht. Die Brüder Maio haben es auch geschafft, Giovanni ist Universitätsprofessor für Medizinethik, Giuseppe studierte deutsche Literatur an der Universität und ist Regisseur und Autor in deutscher Sprache. Beide wurden in San Fele (Provinz Potenza) geboren.


Wer auf eine geschlossene Gesellschaft stösst, braucht Türöffner. Durch die offene Türe musst Du dann selbst gehen. Eine tiefere Wahrscheinlichkeit bedeutet nicht, dass Du keine Chance hast. Du kannst die Diskriminierung überwinden. Nicht nur beim Studium. Zum Auswanderertraum gehört auch die Hoffnung, dass die eigenen Kinder ein besseres Leben führen werden. Was nicht ein Universitätsabschluss bedeuten muss. Der frühere Radprofi Fabian Cancellara war auch erfolgreich. Sein Vater war aus San Fele ausgewandert, wie die Brüder Maio.

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