Philippe: Dein Hinweis, ich würde die Frauen vergessen, als ich die verschiedenen Vater-Kind-Beziehungen in Deinem Roman thematisiert habe, hat mich daran erinnert, dass viele Mütter in dieser Geschichte vorkommen. Typisch süditalienisch, oder nicht? Die Mutter als zentrale Figur der Familie. Die Mutter als Herz und Seele des Hauses – sie hält die Familie zusammen, vermittelt Werte und sorgt für Harmonie. Die Mutter als Mischung von Opferbereitschaft, Fürsorge, aber auch Stolz und Autorität. Die Familie als wichtigste soziale Einheit und im Zentrum die Mutter. Sogar die Mutter Gottes ist dominant in der Basilicata, denn alle sieben Basilica minor sind ihr gewidmet. Du lässt Vicenza Gentile in einer dieser Kirchen sterben.
Gianpietro: Worauf willst Du hinaus? Willst Du damit sagen, mein Frauenbild sei von der süditalienischen Kultur geprägt? Vielleicht. Was wäre daran falsch?
Die Frauen im Roman sind stark. Sie wissen, was sie wollen. Und was sie nicht wollen. Das stimmt. Sie alle sehr verschieden, aber diesen gemeinsamen Punkt haben sie. Ich nehme das aber eher als Distanzierung zum Patriarchat wahr, stelle die Frauen gleichberechtigt neben die Männer. Egal ob sie im Buch aus Deutschland, Norditalien oder Süditalien stammen. Gerade Achims Mutter ist eine moderne Frau, sie war bereits modern zu einer Zeit, als dies noch nicht üblich war.
Mütter als alleinige Vermittlerinnen der Werte sind mir fremd. Ja, sie haben in der Basilicata gerade in der Zeit, als die Männer allein auswanderten, um Arbeit zu finden, eine ausserordentlich wichtige Rolle für die Familie gespielt. Die Männer können und dürfen aber die Vermittlung der Werte nicht ihren Frauen delegieren. Auch sie müssen sich im Klaren sein, was im Leben wichtig ist, und müssen dies ihren Kindern vermitteln. Der Vater als Ernährer der Familie und die Mutter als Herz und Seele des Hauses? Dieses Bild teile ich nicht.
Die Frauen im Roman beschreiben Einzelschicksale. Frauen in unterschiedlichen Situationen mit unterschiedlichen Partnern, die deshalb unterschiedliche Schicksale haben. Es geht nicht um ein Loblied der Mütter, sondern um die Herausforderungen, denen sich die Menschen im Alltag stellen müssen.
Den Santuario in Anglona habe ich nicht gewählt, weil es eine Basilica minor ist oder weil sie der Mutter Gottes gewidmet ist. Es ist ein Ort mit einer sehr langen Geschichte. Von dieser langen Geschichte bleibt nur diese Kirche übrig, die als einziges Gebäude nach einem Stadtbrand stehen blieb. Dieser Ort ist schlicht unglaublich. Deshalb habe ich ihn gewählt.
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