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Annus horribilis

 

Die Queen bezeichnete 1992 als «annus horribilis», als Schreckensjahr, weil ihrer Familie in diesem Jahr ungewöhnlich viel Leid widerfuhr. Für uns alle war 2020 ein Schreckensjahr, nicht nur wegen der Pandemie, sondern insbesondere auch wegen allen anderen Ereignissen, die von COVID-19 in den Hintergrund gedrängt wurden. Klimawandel, Kriege, Naturkatastrophen sind nur aus den Nachrichten verschwunden, aber nicht aus der Realität.

 

Infizierte, Positivitätsrate, Hospitalisationen und Todesfälle wurden uns täglich gemeldet, aber was alles damit verbunden ist, blieb meistens verschwiegen. Corona hat schonungslos aufgedeckt was nicht funktioniert oder nicht stabil genug ist. Gerade die zweite Welle hat Schäden verursacht, die lange ihre Spuren hinterlassen werden. Die Schweiz ist teilweise auseinandergebrochen, war in der Krise nicht mehr geeint. Vor rund 30 Jahren verursachte der Satz «la Suisse n’existe pas» im Schweizer Pavillon an der Weltausstellung in Sevilla für mächtig Ärger. So falsch war der Satz gar nicht, wie Georg Kohler im Feuilleton der NZZ vor einem Jahr festhielt.

 

Wie schwierig es ist, eine nationale Politik zu haben, weiss ich als ehemaliger Leiter der Nationalen Strategie gegen Krebs nur allzu gut. Im Rahmen der Strategie hatten wir etwas, was in der Corona-Pandemie gänzlich fehlt: eine gemeinsame Vision. Auch wenn sich die Akteure nicht immer einig waren, die gemeinsame Vision diente als Orientierung. Ab 2021 haben Bund und Kantone keine gemeinsame Strategie gegen Krebs mehr. Auch in diesem Bereich zerfällt die Schweiz.

 

Es fällt mir schwer es zu akzeptieren, aber die Schweiz ist nicht mehr, was sie war. Viele Jahrzehnte des Friedens hatten ein Land der grossen Stabilität ermöglicht, ein Land, das aussergewöhnlich gut organisiert ist. Dann kam Corona. In der Krise hat das Land Risse bekommen. Unsere politischen Strukturen sind ein Wunder der Stabilität in normalen Zeiten, sie funktionieren in Krisenzeiten mehr schlecht als recht. Gräben haben sich in der Gesellschaft aufgetan, Schuldzuweisungen, Beschimpfungen und Ausgrenzung nahmen zu. Die Solidarität hielt der ersten Welle noch stand, in der zweiten Welle ging sie in Brüche. Die Schweiz ist ein Land von Minderheiten, es gibt keine Mehrheit, die immer den Weg vorgibt. Bei jeder Frage, bei jeder Abstimmung muss sich eine Mehrheit finden. Jede und jeder von uns ist manchmal auf der Siegerseite, aber nie immer. Das hielt unser Land bis jetzt zusammen.

 

Ich komme mir vor wie nach einem grossen Erdbeben. Wer lebt noch, wer hat es nicht überlebt? Was ist unwiederbringlich zerstört, was ist beschädigt aber reparierbar, was unversehrt? Auf 2020 «das Schreckensjahr» wird hoffentlich 2021 «das Jahr des Erwachens» folgen. Ich bin zuversichtlich, dass es kein böses Erwachen sein wird. Wenn wir die richtigen Lehren aus 2020 ziehen, werden wir auch die richtigen Weichen stellen.

 

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern des Unteremmentalers ein gutes und gesundes Neues Jahr!

 

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