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Mehr als Glück

 

Ich werde die Pandemie in positiver Erinnerung behalten. Wenn Sie jetzt denken «jetzt spinnt er!», kann ich Ihnen versichern, dass ich nicht mehr spinne als sonst. Ich bin mir auch völlig bewusst, dass ich privilegiert bin. In meinem Umfeld ist niemand an COVID-19 gestorben, niemand musste hospitalisiert werden, keiner verlor seinen Job oder musste darum bangen. Das brauchte natürlich Glück, aber nicht nur.

 

Ich werde die Pandemie in positiver Erinnerung behalten. Als Präsident von KIBE Region Huttwil war es seltsam zu erfahren, dass familienergänzende Kinderbetreuung für Bund und Kanton systemrelevant ist. Seltsam, weil einerseits die Erinnerung an die Abstimmungsniederlage um den Standort bei der Schule geweckt wurde, aber anderseits auch weil eine unglaubliche Verantwortung da war. Eine Kita und Tagesfamilien könnten Plattformen des Virenaustausches sein, sie wurden es aber nicht. Das brauchte natürlich Glück, aber nicht nur.

 

Ich werde die Pandemie in positiver Erinnerung behalten. Schlüsselpersonen sind nicht immer diejenigen, die im Rampenlicht stehen. Chelsea brauchte nicht nur Kai Havertz, um die Champions League zu gewinnen, sondern auch Ngolo Kanté. Über die Beratungsfirma McKinsey habe ich schon oft den Spruch gehört, dass sie empfiehlt die Stellen abzubauen, die wenig messbaren Mehrwert bringen, und dabei übersieht, dass die Stelleninhaber das Schmierfett der Maschine sind. Wer solche Menschen in seinen Reihen hatte, überstand die Pandemie besser. Das brauchte natürlich Glück, aber nicht nur.

 

Ich werde die Pandemie in positiver Erinnerung behalten. Es gibt Branchen, die dieses Schmierfett sind, aber nicht als systemrelevant eingestuft wurden. Die Gastronomie fällt darunter und sie hatte besonders zu leiden. «Ausserdem waren wir der einzige Anbieter, bei dem man indonesisches Essen erhalten konnte», sagte Daniel Bisten (Restaurant Engel, Hüswil) dem Unter-Emmentaler über die Wohnmobil-Dinner. Die Basis hat er mit seiner Familie und seinen Vorfahren in den Jahren und Jahrzehnten zuvor gelegt. Das brauchte natürlich Glück, aber nicht nur.

 

Ich werde die Pandemie in positiver Erinnerung behalten. Was ich bei meinem Studium zum Master of Public Health vor zehn Jahren gelernt habe, kam plötzlich zur Anwendung. Im Frühling die Kurven der Provinzen Lodi und Bergamo studieren und sich fragen, was anders gelaufen ist. Im Herbst die Kurve der Schweiz anschauen und sich sagen, da stimmt was nicht, die müsste steigen, und wenig später sehen wie sie steigt. A propos Lodi. Als Italien meldete, die Provinz Lodi sei nun rote Zone, war meine erste Reaktion, dass wir durch die Provinz fahren müssen, um nach Süditalien zu kommen. Im Sommer waren wir in Süditalien und haben mit den Verwandten meiner Frau im Restaurant gegessen. Das brauchte natürlich Glück, aber nicht nur.

 

Ich werde die Pandemie in positiver Erinnerung behalten. Früher Selbstverständliches war es plötzlich nicht mehr. Unsere Freiheit ist nicht gratis und vielen unter uns ist bewusst geworden, wie wertvoll sie ist. Von nichts kommt nichts. Das braucht natürlich Glück, aber nicht nur. Es braucht eine nachhaltige Basis und die müssen wir uns tagtäglich erarbeiten und erhalten.

 

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