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Eigenverantwortung?

Wenn die Kosten des Staates steigen, werden die Rufe nach mehr Eigenverantwortung der Bürger lauter. Hat ein einzelner Mensch Einfluss, ist Eigenverantwortung durchaus angebracht, aber viele Probleme können Menschen nur gemeinsam lösen. Je mehr man die Menschen aufruft, zuerst für sich zu schauen, um so weniger denken sie an gemeinsame Lösungen.

 

Seit dem zweiten Weltkrieg hat sich die Waldfläche auf Korsika verdreifacht. Die Dörfer im Inselinneren leeren sich, die Bauernhöfe ausserhalb der Dörfer wurden mehrheitlich schon vor Jahrzehnten aufgegeben. Der Wald wächst ungehindert und brennt jeden Sommer. Waldbrände gab es auch früher, aber sie konnten sich schlecht ausdehnen, weil die Bauern das Land bewirtschafteten und davon lebten. Heute gibt es auf Korsika eine spezialisierte Wald-Feuerwehr, die mit Steuergeldern finanziert wird.

 

Je mehr die Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter für sich schauen, zunehmend aus ökonomischem Druck für sich schauen müssen, umso weniger Zeit haben sie für Aufgaben, die früher innerhalb der Familie erledigt wurden. Kinder, Betagte und Menschen mit Behinderung werden Institutionen überlassen, die mit Steuergeldern unterstützt werden. Ich bin Präsident einer Kinderbetreuungsorganisation und eines Vereins für Menschen mit Behinderung, ich weiss was für eine tolle Arbeit unsere Mitarbeitenden leisten und wie wichtig die Entlastung der Angehörigen ist. Sind die Dienste der Organisationen gefragt, weil die Erwachsenen aus ökonomischem Druck darauf angewiesen sind, ist dies ein untrügliches Zeichen, dass das Gleichgewicht zwischen finanziellem, sozialem, kulturellem und symbolischem Kapital gestört ist.

 

Als einer der ersten Forscher weltweit habe ich den Bedarf an sozialer Unterstützung bei Krebskranken untersucht. Daraus sind einfache Massnahmen entstanden, die heute im Wallis implementiert sind. Familienangehörige und Dorfärzte werden eingebunden, damit ihr Beitrag zur Behandlung der Krankheit möglichst effizient ist und ihre Alltagsrealität berücksichtigt wird.

 

Es gibt überall auf der Welt Ortschaften, die sich dadurch auszeichnen, dass überdurchschnittlich viele Menschen sehr alt werden, sogenannte «blue zones». Die Ursachen sind gesunde Ernährung, genügend Bewegung und eine soziale Rolle der Menschen – auch im hohen Alter - innerhalb der Gemeinschaft. Wer lange leben will, arbeitet also besser nicht zu viel, sondern hat genügend Zeit für gesunde Ernährung, genügend Bewegung und ein soziales Leben.

 

Das Erfolgsmodell der Schweiz basiert auf viel Arbeit. Eigenverantwortung bedeutet aber konsequenterweise weniger Arbeit zugunsten der Gesundheit und der Gemeinschaft. Sollen die Kosten des Staates sinken, müssten die Erwerbstätigen weniger arbeiten und somit weniger Steuern zahlen. Ein Widerspruch zum Erfolgsmodell.

 

In Süditalien, insbesondere in den ländlichen Regionen, stellt sich die Frage nach mehr Eigenverantwortung nicht. Staatlich subventionierte Dienstleistungen sind selten. Die Betreuung von Kindern, Betagten und Menschen mit Behinderung kann meistens nur in der Gemeinschaft gelöst werden.

 

Buchempfehlung

Dan Buettner (2023) Das Geheimnis der 100-Jährigen: Entdeckungsreise in die Blue Zones der Welt

ISBN 978-3-9870103-9-2

 

Dan Buettner veröffentlichte 2005 erstmals seine Theorie zu den Blue Zones. Die damalige Publikation hat methodologische Schwächen, aber zwanzig Jahre später ist belegt, dass  gesunde Ernährung, genügend Bewegung und ein intaktes soziales Leben Langlebigkeit fördert.

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